Alina über Elena:
Es war Elena, die mich Anfang März nach Konstanz eingeladen hat. Elena hat mir ihre Hilfe angeboten, Menschen bei der Suche nach einer Unterkunft zu kontaktieren, die mich wenigstens für ein paar Wochen aufnehmen konnten, damit ich Zeit habe, mich von der Evakuierung zu erholen. So kam es, wie das Schicksal es wollte, dass wir uns getroffen haben – Konstanz und ich.
Elena erzählt ihre Geschichte von Nächstenliebe:
Zunächst möchte ich sagen, dass ich diese Situation schon einmal durchlebt habe, im Jahr 2014. Ich war zuerst auf der Krim und dann in Kyiv in dem slawisch sprachigen Gebiet. Wenn man an einen neuen Ort kommt, ganz von Null anfängt und neue Kontakte knüpft, kostet das unglaublich viel Energie und Kraft. Als ich in die Schweiz gekommen bin, war es wesentlich schwieriger, Menschen zu finden, die mir geholfen haben, das Land zu verstehen. Menschen, die mich solange an die Hand genommen haben, bis ich mich wenigstens ein kleines bisschen zuhause gefühlt habe. Als wir von Donezk weggefahren sind, war es ein Zustand, als würde uns das Gefühl von Heimat völlig genommen werden. Unvorstellbar, dass man seine Heimat so leicht verlieren kann … Heimat liegt immer in den Menschen, die einen umgeben, begründet. Die Botschaft, die ich gelernt habe, ist, dass in dieser stressigen Situation, in der einem der Boden unter den Füssen weggerissen wird, die menschliche Anteilnahme am wichtigsten ist. Es ist nicht so sehr die materielle Unterstützung, sondern das Mitmenschliche. Das Gefühl zu haben, dass es einen Menschen auf deiner Seite gibt, mit dem du auf einer mentalen Ebene dieselbe Sprache sprichst, ist wichtig. Es gibt einem das Gefühl: „Hier bin ich sicher, hier werde ich verstanden“. Der menschliche Faktor steht in jeder Situation an erster Stelle.
Wer bin ich …
Mein Name ist Elena Jovanovski, ich bin 45 oder 46 Jahre alt und meine Nationalität ist ukrainisch-russisch. Mein Vater ist Ukrainer, meine Mutter ist Russin. Ich bin Künstlerin, Therapeutin, Malereilehrerin, Designerin, Glasmalerin und gerade erlerne ich die sakrale Geometrie. Ich entwickle mich in Sachen Kreativität ständig weiter, ich füge immer etwas zu meinen Erfahrungen hinzu. Ich erweitere ständig mein Wissen im Bereich der Psychologie und der Kunsttherapie, der Psychophysik und in allen Arten der psychophysischen Praktiken.
Als ich in die Schweiz gezogen bin, war das weniger eine gestalterische Phase, sondern mehr die Vertiefung meiner persönlichen Kreativität, die Suche nach meinem eigenen Stil und der sakralen Geometrie. Zurzeit mache ich eine intensive Therapie mit ukrainischen Frauen. Einmal pro Woche gibt es Übungen der sakralen Geometrie, Kunsttherapie und in intuitiver Malerei. Es gibt dort Momente, in denen ich beobachte, dass das alles funktioniert und sich der Zustand verändert. Menschen warten auf diese Treffen, sie spüren ihre innere Entwicklung, den Fortschritt und den Abbau von Stress. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich aus Stress zu befreien. Du machst einfach etwas Kreatives, Schöpferisches und setzt dich mit der inneren Kontemplation auseinander. Das ist eine angenehme, leise Art. Schritt für Schritt lösen sich eigene Stressblockaden und allmählich kommst du auf eine Ebene mit dir selbst, eine Ebene der inneren Unterstützung.
Das bin ich, Elena, und dieser Zustand, unabhängig vom Prinzip Mann oder Frau, ist der, in dem mein Wesen versucht, Erkenntnisse zu gewinnen und sich darin zu erweitern.
Was ist für mich Nächstenliebe/ Kindness …
Nächstenliebe... das ist das Gefühl, in dem wir dieses Gespräch angefangen haben: „Sei ein guter Mensch, aber verschwende deine Zeit nicht damit, es anderen zu beweisen.“ Es ist ein natürlicher Zustand, zu dem die Seele aufruft. Man analysiert und zählt dabei nicht, was man alles getan hat. Ich trenne nicht zwischen Kindness und Unkindness, ich mache mal etwas Gutes und ich mache mal etwas Schlechtes. Der Zustand von Kindness ist für mich eine innere Botschaft, dass man etwas in Bezug auf eine Situation, in Bezug auf eine Person fühlt. Nach dieser inneren Botschaft folgt dann das Handeln, sofern in der jeweiligen Situation überhaupt ein Handlungsbedarf besteht. Das kann nur ein Wort sein oder einfach einem Menschen zuzuhören.
Für mich ist es ein natürlicher Zustand, der nicht in Handeln und Nichthandeln unterteilt ist. Es ist einfach eine herzergreifende Seelenbotschaft.
Als ich erfahren hab, dass der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist ...
Nun, wie für vielen von uns war es für mich ein Schock, weil mein Sohn dort geblieben ist. Der erste Zustand war die tiefste Sorge um meinen Sohn, um seine Sicherheit. Es war ein Gefühl von Hilflosigkeit, dass ich keinen Einfluss auf die Situation nehmen kann, dass alles stillsteht und man nichts dagegen tun kann. Es war ein Haufen von Emotionen, den ich zu verstehen und zu kontrollieren versucht habe. Ich hatte eine Art von Selbstverlust. Es fühlte sich an, als ob ich in einer persönlichen Tragödie versinken würde. Ich bin einfach gestorben
... In den ersten zwei Tagen des Krieges, besonders nach der Pandemie war ich überfordert und körperlich unvorbereitet. Es war ein völlig energieloser Zustand, ein Schock, ein Selbstverlust. Ich hatte kein Gespür mehr für mich selbst, keinen Sinn für Frieden, gar nichts. Es war ein Zustand, der unter null war.
Der Krieg in der Ukraine bedeutet für mich ...
Es gibt Kriege an verschiedenen Orten, überall auf der Welt. Solange es allerdings nicht um deine eigene Heimat geht und um Menschen, die dir nahe stehen, ist es immer ein distanziertes Gefühl und Mitgefühl, als ob man ein Bild betrachtet – es spiegelt sich im Inneren nicht allzu sehr. Du spürst diese Tragödie aber sehr stark, wenn sie dich persönlich trifft. Das ist wahrscheinlich die Situation, in der sich dein Einfühlungsvermögen stark manifestiert und es lässt dich diese Schärfe vom Kriegszustand spüren.
Dieser Krieg hat meine Wahrnehmung/ mein Bewusstsein verändert ...
Ich habe diesen Zustand bereits 2015 in Donetzk erlebt. Die Situation jetzt folgt wahrscheinlich demselben Muster, nur in viel größerem territorialem Ausmaß. Meine Wahrnehmung hat sich in dem Sinne verändert, dass ich von der Notwendigkeit überzeugt bin, im Hier und Jetzt zu leben. Einerseits ergibt sich für mich eine gewisse Sinnlosigkeit in einer langfristigen Planung. Auf der anderen Seite gibt es in dieser turbulenten Bewegung immer noch ein inneres Vertrauen in mich selbst und in das Wissen, dass das Land mich immer ernähren wird, die Menschen mir helfen werden und die Welt für mich offen steht.
Ich möchte den Menschen zum Weihnachten wünschen ...
Mein Wunsch ist, dass Menschen immer Vertrauen zu sich selbst haben, in ihren inneren Zustand, in ihr Gottvertrauen, in das innere Licht. All die Krisenmomente, die vielleicht noch erlebt werden müssen, sollen Menschen es zur eigenen Weiterentwicklung bringen, nicht zum Untergang. Jeder Mensch sollte solche Momente nutzen, um sich zu entwickeln, aufzusteigen, und – im besten Fall – um andere mit sich hinaufzuziehen. Alle Momente im Leben, sogar und gerade Krisenmomente, sind für etwas nützlich. Damit der Mensch entweder besser, besonnener und heller wird oder aber seine eigenen dunklen Schatten zum Vorschein bringt ... Es ist eine Art Prüfung. Ich wünsche allen Menschen, dass sie diese Prüfung bestehen, um dem Licht näher zu sein.
So soll es sein.