Am 24. Februar, es war ein Donnerstag, stand ich in meiner Küche, als ich die Nachricht gelesen habe, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Es war ein wolkenloser Tag und ich hatte frei.
Ich hatte ein Gefühl von Aussichtslosigkeit und Ohnmacht. Diffuse Angst war in meinem ganzen Körper. Verzweiflung, Wut und ein starkes Gefühl, dass dies so ungerecht und sinnlos ist. Ich spürte einen Impuls des Nicht-Wahrhaben-Wollens, wie wenn ein Mensch, der dir nahe steht, stirbt. Ich bin zu Boden gesunken und habe geweint. Das Ganze hat mich persönlich getroffen und ist zu meiner eigenen Tragödie geworden. Mein Vater war in der Nähe von Kyiv und drei meiner Studienkolleginnen, Snizhana, Oksana und Viktoria und mein Studienkollege Oleg waren direkt dort. Ich wollte helfen, irgendwas tun und war getrieben von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Ich konnte diese Gefühle nur schwer ertragen, denn es ging ums Überleben. Mein eigenes Überleben und das Überleben meiner Erinnerungsbilder, der Menschen, die meine Jugend ausmachten. Der Gedanke, dass ich meinen Vater womöglich nicht mehr lebendig sehen würde, war unerträglich … Ich hatte ihm noch so viel zu sagen, so viel mit ihm zu teilen. Die schlimmsten Morgenstunden waren diejenigen, wenn ich in unserem Chat auf die Antworten warten musste, ob alle noch am Leben sind. Die ersten Wochen des Krieges war ich gedanklich oft nicht hier, sondern in Kyiv und habe versucht zu verstehen, wie und wem ich konkret helfen kann.
Hilfe meiner Freundinnen und deren Kindern
Ich habe Snizhana, ihrer Schwester, Oksana und deren Kindern geholfen nach Konstanz zu kommen. Ich dachte, dass der See und die Umgebung helfen würden, diesen ganzen Horror, den sie erlebt haben, ein bisschen zu entschärfen. Mein Ziel war, ihren Aufenthalt hier so wohltuend zu gestalten, wie es für mich irgendwie möglich war.
Ich wusste, dass Snizhana gut zeichnen und malen kann, mit Aquarell und Bleistift. Ich wollte, dass Snizhana das tut, was ihr Freude macht, und deshalb habe ich für sie nach einem Job gesucht, in dem sie zeichnen kann. Das war dann in der Kunstschule in Konstanz, wo sie zwei Monate für Kinder und Erwachsene Malkurse unterrichtete. Ich habe versucht, ein Stückchen Normalität für Snizhana zu gestalten.
Aus meiner eigenen Erfahrung weiss ich, wie unangenehm es sich anfühlt, wie sehr es einen verunsichert und lähmt, wenn man in einem fremden Land ankommt und die Sprache nicht spricht. Wenn man nichts versteht und sich mit der Infrastruktur nicht auskennt …
Die Idee mit dem Adventskalender „Die Gabe der Weisen“
Diese Idee kam mir in den Kopf, als ich darüber nachgedacht habe, wie viele Menschen mir geholfen und mich unterstützt haben, damit ich Snizhana, ihrer Schwester Oksana und deren Kindern helfen kann. Mir kam die Geschichte „Die Gabe der Weisen“ von O. Henry über Della und Jim in den Sinn. Sie haben das Wertvollste, das sie besaßen, bedingungslos hingegeben, um sich gegenseitig eine Freude zu machen.
Ich wollte dieses großartige Gefühl von Solidarität und die immense Unterstützung, die ich erfahren habe, mit möglichst vielen Menschen teilen.
Auf Instagram habe ich 2020 schon sowas ähnliches gemacht. Ich habe im Advent jeden Tag eine Geschichte mit schönen Bildern gepostet. Dieses Jahr musste ich nicht viel nachdenken. Ich wollte 24 Geschichten über Nächstenliebe/ Kindness veröffentlichen und Alina hat mich inspiriert, diesen Adventskalender nicht virtuell, sondern gedruckt herauszubringen.
Ich möchte, dass unser gemeinsames Projekt vielen das Gefühl gibt, dass sie mit ihren Gedanken und Gefühlen, die unsere heutige Situation betrifft, nicht alleine sind. Ich möchte auch, dass die Nächstenliebe der Menschen, die mich unterstützt haben, meinen Freundinnen und ihren Kindern zu helfen, ein Gesicht bekommt.
Diejenigen, die diese Geschichten lesen werden, sollen wiederum ein gutes Gefühl bekommen, weil es sehr viel Nächstenliebe auf dieser Welt gibt. Gerade in schwierigen Lebenslagen kann man wunderbar füreinander da sein, einander stärken und sich miteinander solidarisieren …
Wer bin ich ...
Ich heisse Viktoriya, bin bereits seit Frühsommer 1979 auf dieser Welt und fühle mich hier auf der Erde meistens wohl. Ich habe in der Ukraine Architektur und in Deutschland Innenarchitektur studiert.
Was ist meine Nationalität? Diese Frage habe ich mir sehr oft gestellt. Es ist für mich eher eine Vorstellung im Kopf. Meine Erinnerungsbilder vielleicht? Zum Beispiel von Podyl in Kyiv, als ich damals Architektur studiert habe. Oder Uhlbach in Stuttgart und die Weinberge, die ich aus meinem Zimmer gesehen habe. In der Umgebung von Konstanz sind es die Tägermoosallee und meine Spaziergänge dort, das Schänzle mit seinen Sonnenuntergängen, Picknicken und Gesprächen mit meinen Freunden und Freundinnen und natürlich Davide und sein Klavierspiel im Stadtpark. Sprachlich denke und träume ich meistens auf Deutsch, lese Bücher und Artikel in der ukrainischen oder russischen Sprache und schaue mir gerne Filme auf Englisch an.
Beruflich gestalte ich wohltuende Raum- und Lichtatmosphären. Ich sehe Ästhetik in dem, was ich beobachte und was mich umgibt. Ich bin eine Anbeterin des Sonnenlichts.
Ich bin ein liebens- und lebenswerter Mensch. Das ist die Kurzfassung, wenn ich mich beschreiben soll.

Was ist für mich Nächstenliebe/ Kindness …
…Hm, Nächstenliebe ist für mich etwas, das ein Teil vom menschlichen Wesen ist. Es ist das Urgefühl und die Erinnerung daran, dass wir Menschen alle soziale Wesen sind. Es kann ein Gedanke oder eine Handlung sein … Es ist eine bedingungslose Absicht eines Menschen, die sich wohltuend auf einen anderen Menschen auswirkt. Und dann reflektiert sich dieses wohlige Gefühl auf den ausführenden Menschen. Es funktioniert eben wie mit dem Sonnenlicht!
Als ich erfahren hab, dass der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist ...
Die erste Woche hat mich in eine grosse Ohnmacht versetzt. Ich hatte ein Gefühl von Aussichtslosigkeit, spürte eine diffuse Angst in meinem ganzen Körper, dazu Verzweiflung und Wut. Ich habe mir verboten, mich zu freuen. Es war furchtbar, denn ich habe jeden Menschen innerlich verabscheut, der ein normales Leben weiterführen konnte, als ob es nichts wäre.
Der Angriff auf die Ukraine hat ja als Absicht begonnen, die ganze Nation auszulöschen und dann alles so darzustellen, als ob es die Ukraine nie gegeben hätte, nicht als souveränen und unabhängigen Staat.
Das hat mich getriggert. Es hat auch meinen eigenen Überlebenskrieg gespiegelt, weil es in meinem Leben einen Menschen gibt, dem ich tief vertraut habe und der versucht hat, meine eigene Identität und mein Urvertrauen auszulöschen. Und das über Jahrzehnte hinweg und mit einer einzigen Absicht: das eigene Bild von mir, wie ich zu sein habe, dann allen zu präsentieren. Ich habe es überlebt und habe gesiegt, über die Verunsicherung. Bei dem Krieg spürte ich wieder diese Verunsicherung, nur jetzt auf einer gesamtheitlichen Ebene.

Der Krieg in der Ukraine bedeutet für mich ...
Auf der einen Seite bedeutet für mich dieser Krieg, dass meine Erinnerungsbilder zerstört werden, ohne dass ich mein OK dafür gegeben habe. So, als ob jemand mein Tagebuch ohne meine Einwilligung gelesen hätte.
Ich frage mich, warum Menschen nicht ohne Krieg koexistieren können und ich verstehe nicht, warum.
Wie kann es sein, dass das ganze russische Volk unter dem Stockholm Syndrom leidet?! Es bräuchte in jedem Land Mechanismen an der Spitze der Regierung oder im System, die solche verrückten Daddies direkt in ihren Anfängen ausmustern, präventiv und weit voraus.
Auf der anderen Seite bedeutet diese Situation für mich, eine Chance zu bekommen, mein eigenes Wesen bewusst wahrzunehmen. In meinem Kopf ist ein Bild von Nacktheit und dass ich darüber nachdenke, wie ich damit umgehe. Ich kann mich erkunden, erkennen und wahrnehmen, dass ich nackt bin und dass in diesem Moment nur das Wesentliche da ist …

Dieser Krieg hat meine Wahrnehmung/ mein Bewusstsein verändert ...
Sowohl meine Wahrnehmung als auch mein Bewusstsein, ja.
Zum einen ist mir bewusst geworden, dass für mich das Wissen wichtig ist, was ich gut kann und was mich erfüllt. Das ist das, auf was ich mich stützen kann, während es überall wackelt und stürmt. Das Wissen fühlt sich an wie eine innere Ruhe und Stabilität, gleichzeitig aber auch die Sicherheit, dass ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen kann und dass ich für mich richtige Entscheidungen treffe in dieser oder jener Situation.
Zum anderen höre ich viel mehr darauf, wie es mir geht und wie sich etwas für mich in einem bestimmten Moment anfühlt. Das bringt mich dazu, meine Gefühlswelt zu verstehen und meine Lebenszeit wertzuschätzen. Und genauso gehe ich dann mit meinen Mitmenschen um.
Was sich auch in meiner Wahrnehmung verändert hat, ist, dass ich Beziehungen mit Menschen aufbaue, die für mich bis jetzt wenig sichtbar waren, weil ich für mich selbst wenig sichtbar war. Ich baue darauf, dass diese Beziehungen dann auch nachhaltig sind. Zumindest habe ich jetzt diesen Eindruck.
In mir ist das Bewusstsein nur noch stärker geworden, dass nichts selbstverständlich ist auf dieser Welt.
Ich finde, der Frieden ist kostbar und bedarf viel gemeinsamer Arbeit und Bemühungen von jedem einzelnen von uns.

Ich möchte den Menschen zum Weihnachten wünschen ...
Wenn Weihnachten eine Art Verbindung zum Universum wäre, dann wünsche ich mir inneren Frieden und Zufriedenheit. Das erreiche ich durch das Wahrnehmen und Reflektieren meiner Gefühle und meiner Talente. Für mich ist es vielleicht auch der Weg, der zur friedlichen, bereichernden und wertschätzenden Koexistenz mit anderen Lebewesen auf dieser Erde führt.