Viktoriya über Nataliya:
Nataliya ist mein Schwesterherz, ein Mensch, der mir sehr nahe steht und mit dem ich meine Freude und meinen Kummer teilen kann. Sie ist für mich ein wichtiger Mensch in meinem Leben und meine liebste Lebensbegleiterin. Schon am 24. Februar haben wir uns abgesprochen, dass wir von da an jeden Mittag telefonieren und uns gegenseitig zuhören, uns unterstützen und einfach miteinander reden werden. Das hat mich mental jeden Tag ein Stückchen aufgebaut, nachdem ich bis zum Hals im Sumpf aus Eilmeldungen und Nachrichten steckte und die Situation verstehen wollte. Schon sehr schnell ging es bei unseren Gesprächen um die Organisation von Hilfe für unseren Vater und für meine Freundinnen. Gefühlt war Nataliya für mich der erste Mensch, der die ganzen Paragraphen über Asylbeantragung in Deutschland ins Russische übersetzt hat, damit unser Vater sich zurechtfinden konnte. Und mir erklärte sie viele infrastrukturelle Besonderheiten zwischen den Bundesländern, dass ich am Ende wusste, an wen und an welches Amt ich mich wenden kann. Später organisierte und koordinierte Nataliya Pakete mit Kleidung, Schuhen und Alltagsgegenständen für Snizhana, ihre Schwester und deren Kinder.
Wir waren ein tolles Team. Das sind wir heute noch!
Nataliya erzählt ihre Geschichte von Nächstenliebe:
Das ist für mich ein Selbstverständnis. Mir kam sofort der Gedanke: „Ich will was tun“, allerdings war ein anderes Gefühl dabei als bei den Menschen, die hier in Europa sind und nicht so direkt betroffen sind wie du und ich. Ich wollte helfen,genau dort wo ich effektiv helfen kann. Kein Aktionismus. Ich habe mir die Frage gestellt: „Wie genau soll meine Hilfe aussehen?“ Der erste Gedanke war: „Ich fahre an die Grenze und hole Menschen ab“. Es fühlte sich für mich nicht richtig an, wieso, kann ich nicht erklären, es war einfach ein Bauchgefühl. Später stellte sich heraus, dass mein Bauchgefühl richtig war, denn ich hätte an der Grenze die Arbeit der ausgebildeten Helfer und Helferinnen möglicherweise mit meinem Unwissen erschwert. Mein zweiter Gedanke war, gezielte Hilfe zu leisten. Wenn Leute mich fragen und ich weiß, wo die Hilfe gebraucht wird, diese Menschen dahin zu lenken. Sei es durch Übersetzungen, seien es Anfragen wie die Behörden hier funktionieren, sei es Hilfe mit materiellen Sachen, die benötigt werden etc. Wenn ich auf der Straße oder in Geschäften die ukrainische Sprache höre und merke, dass die Menschen nicht weiterkommen, komme ich einfach dazu und übersetze. Ich biete meine Hilfe an. Es ist was ich tun kann und was die Menschen weiter bringt. Teilweise erkläre ich auch den Menschen in Deutschland, wie die Mentalität und Kultur der Ukrainer:innen ist. Ich werde häufig darauf angesprochen – „die Geflüchteten aus der Ukraine sind total anders. Sie wollen sofort hier arbeiten. Wieso sind sie so drauf?“ Und das ist wiederrum, was ich eben aus der Kultur von dort erklären und vermitteln kann. Das bereichert die anderen und mich auch. Und es macht diese Welt vielleicht ein kleines Stückchen besser.
Wer bin ich ...
Ich heiße Nataliya und bin  vor ein paar Jahrzehnten in Tscherkassy am Dneper in der Ukraine geboren. Ich habe dort meine Kindheit und Jugend verbracht, bis ich 18 Jahre alt war. Dann kam ich nach Deutschland. Ein Jahr lang lebte ich in Hessen, im Main Taunus Kreis, bei einer Gastfamilie als Au-Pair-Mädchen. 
Am Anfang, als ich in Deutschland Fuß gefasst hatte, war ich noch häufiger zu Besuch in der Ukraine. Mindestens ein- oder zweimal im Jahr, irgendwann wurde es weniger. Das hängt mit meiner Entscheidung zu meinem Lebensmittelpunkt hier in Deutschland zusammen. 
Was bin ich und was mag ich noch?
Ich mag es, Menschen zu beobachten. Ich höre hin, wenn jemand mir etwas zu erzählen hat oder etwas loswerden möchte und ich mag es nicht, Ratschläge zu geben. Seit der Zeit des Krieges fühle ich mich wie zwischen den Welten: eine Welt mit der Kultur und den Wurzeln, der ich entstamme, und eine andere - das ist die Welt, mit der Kultur, in der ich Wurzeln geschlagen habe. Und derzeit ist das ein Segen, weil ich beide Kulturen und Welten verstehe und zwischen ihnen vermitteln kann. 
Was ist für mich Nächstenliebe/ Kindness …
Wenn ich mich nicht selbst liebe, dann kann ich auch keinen anderen Menschen lieben, also auch nicht die Nächsten. Für mich ist Nächstenliebe die Grenzen der anderen zu erspüren. Und das kann ich nur, wenn ich meine Grenzen kenne. Es bedeutet für mich, auch den Groll auf andere nicht auszutragen und ihn nicht übertragen zu lassen. Dennoch gilt es bestimmt zu bleiben und eine eigene Sicht zu haben oder andere Ansichten zuzulassen und nicht unterwürfig oder nachgebend zu sein. Denn der Groll macht etwas mit mir, er beeinflusst das Verhalten und das Denken in eine negative Richtung. Er beeinflusst auch das Umfeld negativ. Für mich ist es wichtig, Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind, damit ich mich selbst akzeptieren kann und mich selbst dadurch liebe. Man darf das nicht mit Narzissmus verwechseln! Wenn ich mich über jemanden ein Leben lang ärgere, dann verbringe ich so viel Zeit mit dem Ärger des anderen und ich habe doch von dem kostbaren Leben nichts außer einer negativen Energie. Damit mache ich mich selbst kaputt und die anderen, die Menschen, die um mich sind. Somit ist die Nächstenliebe für mich: mit mir selbst in Einklang zu sein und mich selbst im Spiegel ansehen können – mit meinem Tun und meinem Denken. Die Nächstenliebe interpretiere ich für mich nicht über materielle Dinge.
Als ich erfahren hab, dass der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist ...
Ich war in einer Schockstarre. Für mich blieb die Welt still stehen. Es war schrecklich – alles. Es war unglaublich, wie ein Albtraum. Es ist ein Albtraum. Ich hatte keine Wut. Ich hatte Angst um meine Familie dort! Um Menschen, die dort friedlich und glücklich gelebt haben.
Der Krieg in der Ukraine bedeutet für mich ...
Der Krieg in der Ukraine bedeutet für mich, dass unser Papa und meine Familie nicht zurück in die Ukraine gehen können, zu sich nach Hause, was sie unglaublich vermissen. Er und du, Vik, ihr seid mehr entwurzelt, als ich es wahrscheinlich bin, auf Grund unserer Familiengeschichte. Dennoch trifft mich das mit voller Wucht und mitten ins Herz. Für mich bedeutet es, dass ich nicht zu dem Grab meiner Großeltern gehen kann, ich kann keinen Abschied nehmen, ich kann nicht einfach mal dort sein, wo ich aufgewachsen bin. Ich habe meinen Lebensmittelpunkt hier bewusst gewählt und wollte nicht mehr in die Ukraine zum Leben zurückkehren. Dennoch sind dort meine Wurzeln, dort ist mein Ursprung, ich wurde von Vielem und Vielen dort geprägt und es macht mich zu dem Menschen, der ich heute bin. Das wird jetzt zerstört – das tut unendlich weh. Das Wissen, dass dieses Land, die Menschen dort, das Unmenschliche erleben, das macht mich unendlich verletzlich, traurig und ist in Worte einfach nicht zu fassen. Ich will wieder die Sicherheit haben, meinen Ursprung besuchen zu dürfen – so friedlich wie es mal war, mit viel Lachen und schönen Erinnerungen. Ob ich es jemals in diesem Leben noch tun kann? Das ist derzeit ungewiss. 
Dieser Krieg hat meine Wahrnehmung/ mein Bewusstsein verändert ...
Ich merke es, wenn ich etwas erzähle: dann gibt es für mich „vor dem Krieg“ und „nach dem Krieg“. Auch wenn ich selbst nicht aktiv im Krieg lebe oder mich dazwischen befinde, nehme ich es so wahr, dass sich das Leben in ein „Davor“ und „Danach“  unterscheidet.
Ich merke, dass ich die Dinge im Leben anders priorisiere. Ich merke, dass ich weniger auf „später“ verschiebe, was ich heute schon als wichtig und richtig für mich erachte. Denn es ist mir noch bewusster geworden – mein Leben ist viel zu kurz für später! Ich konzentriere mich auf das Wesentliche für mich, denn hey, ich weiss nicht, ob es ein Morgen noch geben wird. Warum soll ich etwas auf morgen oder auf später verschieben? Wieso?! Der Fokus hat sich verändert: Plane nicht so viel und nicht zu weit. Mache es jetzt. Das ist für mich zur Tatsache geworden und ich setze es, so weit ich es selbst in der Hand habe, um. 
Ich möchte den Menschen zum Weihnachten wünschen ...
Den Leuten in der Ukraine wünsche ich, dass sie es im Winter warm haben. Den Menschen, die geflüchtet sind, sowie meiner Familie und all denjenigen, die ihr Zuhause sehr vermissen und zurückkehren wollen, wünsche ich, dass sie etwas Geduld haben, um danach in ihr befreites Zuhause kehren zu können.
Ich wünsche mir, dass die russischen Truppen abziehen und die russische Bevölkerung, die sich Bürger:innen der russischen Föderation nennen und dieses Regime unterstützen, über Generationen für ihre Taten und UN-Taten schämen. 
Ich will, dass diese Welt ein Stückchen friedlicher wird. Mir persönlich wünsche ich Frieden für meine Familie und in meinem Geburtsland. Ich wünsche mir, dass der Krieg vorbei ist und nie wieder kommt. Das wünsche ich mir.