Alina über Julia:
Julia hat im März einen Beitrag auf Facebook veröffentlicht, in dem sie Dinge verschenkt hat. Nachdem wir uns gegenseitig geschrieben haben, hat Julia mich gefragt, ob ich ihr eine Liste mit Dingen/Haushaltsgegenständen schicken könnte, die ich und meine drei Kinder in der neuen Wohnung benötigen. Julia hat dann Möbel und Gegenstände für die Schule der Kinder sowie andere Haushaltsgegenstände bei Bekannten gesammelt und hat mir alles zweimal aus der Schweiz nach Konstanz gebracht. Es war eine sehr freundliche und herzliche Kommunikation und Hilfe. Ich und Julia sind immer noch in Kontakt.
Julia erzählt ihre Geschichte von Nächstenliebe:
Ich wollte ursprünglich einfach verschiedene Bilderrahmen auf Facebook verschenken. Ich mache das öfters und habe mir keine großen Gedanken darüber gemacht. Alina hat mich angeschrieben und gefragt, ob ich die Bilderrahmen nach Konstanz bringen könnte. Sie hat mir ein bisschen geschrieben, wer sie ist und woher sie kommt. Ich dachte mir, da wir ja sowieso am Umziehen sind, frage ich sie, was sie noch alles brauchen könnte. Für mich war klar, ich will jetzt helfen, ich will etwas tun, auch wenn das nur bedeutet, das Auto voll zu laden und ihr die Sachen vorbeizubringen. Mich hat ihre Geschichte nicht losgelassen. Ich habe dann gedacht: drei Kinder … Das Gefühl gehen zu müssen und alles, was man zu seiner Heimat zählt, zurückzulassen. Das war für mich ein ganz schlimmer Gedanke. Und so habe ich angefangen, verschiedene Dinge, die Alina und ihre Kinder benötigen, in meinem Familien- und Freundeskreis zu sammeln. Es kamen einige Dinge zusammen und es war schön zu sehen, wie viele Menschen bereit waren zu helfen.
Unser Leben dreht sich manchmal so schnell, ein Tag nach dem anderen geht vorüber. Wir überlegen uns eigentlich gar nicht, was wir alles haben und wie gut es uns geht. Was man zu schätzen weiß und mit welchen Kleinigkeiten man im ersten Moment einfach jemandem helfen kann.
Wer bin ich ...
Ich bin Julia, 35 Jahre alt, und wohne in Kreuzlingen. Gebürtig bin ich aus Konstanz. Ich bin gerne mit meiner Familie und meinen Freunden zusammen und genieße die gemeinsame Zeit. Genauso gerne bin ich auch für mich alleine, um mir klar zu werden, was um mich herum passiert und meine Gedanken zu sortieren. Ich würde mich als empathisch und reflektiert beschreiben, sehr kritisch mit mir, weniger mit meinen Mitmenschen. Ich bin humorvoll, gerne in Gesellschaft und offen. Ich bin kreativ, nehme mir allerdings viel zu wenig Zeit dafür. Ich bin hilfsbereit. Das kommt sehr wahrscheinlich von meinem Beruf. Bis vor Kurzem habe ich als Lehrerin gearbeitet. Nun bin ich Schulleiterin in einer Primarschule im Kanton Zürich.
Was ist für mich Nächstenliebe/ Kindness …
Nächstenliebe ist für mich, wenn man bereit ist, einem anderen Menschen zu helfen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Füreinander da zu sein, ein offenes Ohr zu haben, Zeit zu schenken und die Bedürfnisse der anderen wahrzunehmen. Die Menschen so zu akzeptieren und wertzuschätzen, wie sie sind.
Als ich erfahren hab, dass der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist ...
Die ersten Nachrichten über den Beginn des Krieges in der Ukraine haben mich natürlich interessiert und bewegt. Ich wollte mehr darüber erfahren. Bei uns in der Schule sind sehr schnell geflüchtete Kinder mit ihren Familien angekommen, die auch einen Schulplatz gebraucht haben. Dann war es plötzlich ganz nah und ich habe gemerkt, dass diese Familien, die ganz neu in unsere Schulgemeinde kommen, niemanden kennen und sich nicht auf Deutsch verständigen können. Sie kennen die Umgebung nicht und sind bei Menschen untergekommen, die sie aufgenommen haben. Auf einmal ist das Schicksal, das durch den Krieg in der Ukraine verursacht wurde, ganz nah gewesen. Ich habe gemerkt, dass es auch in mir Unsicherheiten ausgelöst hat. Ich habe darüber nachgedacht, wie gut es mir in meinem Leben geht und wie wenig Sorgen man eigentlich in Bezug auf Sicherheit hat. Als ich Alina und ihre Geschichte kennengelernt habe, habe ich mir vorgestellt, wie es für mich wäre, wenn ich nicht mehr Zuhause sein könnte, wenn ich alles zurücklassen müsste ...
Dieser Krieg hat meine Wahrnehmung/ mein Bewusstsein verändert ...
Meine Wahrnehmung hat sich auf jeden Fall in die Richtung verändert, dass man kleine Dinge zu schätzen lernen muss. Oder einfach wahrnehmen muss: was passiert um mich herum, was passiert dabei bei mir im Inneren. Ich habe plötzlich festgestellt, dass ich über so viele Dinge nachdenke, die am Ende unnötig sind. Ich kann meine Gedanken für viel Wichtigeres aufwenden, viel bewusster durch die Welt gehen.
Ich habe am Anfang ganz viel Berichterstattung über den Krieg verfolgt und habe gemerkt, dass ich in einer Negativspirale landete. Ich wusste zwar gut Bescheid, aber es brachte mich einfach nicht weiter.
Es war mir dann wichtig zu helfen, auch hier zu helfen, Menschen, die hier ankommen. In der Schule den Kindern zu helfen, die in ihrem jungen Alter schon viel erleben mussten und die sich vorerst ohne Deutschkenntnisse zurechtfinden müssen. Es war wichtig ihnen einen guten Start zu ermöglichen. Der Krieg hat Dinge ausgelöst, die hier passieren, in meinem Leben. Menschen, die hierher gekommen sind und unsere Hilfe gebraucht haben.
Dadurch, dass die Menschen vor dem Krieg geflüchtet und in unser Leben gekommen sind, haben sie uns ihr Leben und die Dinge, die sie erleben mussten, nähergebracht. Das Leid, das sie erleben mussten, hat mich tief bewegt.
Mein Leben und meine Umgebung sind sicher, aber seitdem kommt der Gedanke immer wieder auf: Was wäre, wenn ich selbst direkt betroffen wäre?
Ich möchte den Menschen zum Weihnachten wünschen ...
Für mich bietet Weihnachten die Möglichkeit das eigene Leben zu entschleunigen. Den Trubel hinter sich zu lassen und zur Ruhe zu kommen. Zeit in Gesellschaft mit lieben Personen, die man gerne hat. Dinge zu tun, die einem gut tun und Kraft geben. Das wünsche ich meinen Mitmenschen zu Weihnachten.